Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Mia blickte ihm auf die abgewetzten, braunen Stiefel, die schon jedes Leid der Welt gesehen zu haben schienen. Sein schlurfender Gang hatte etwas Endgültiges, etwas Niederschmetterndes. Sie fühlte sich ihm auf unbeschreibliche Art ganz nah und doch völlig fremd.

Seine hängenden Schultern erzählten von jahrelanger Trauer und Einsamkeit, aus seinem Körper waren längst alle Hoffnung und Zuversicht gewichen. Sie sah ihn vor sich, wie er einmal ein junger und lebensfroher Mann gewesen war. Wie er aufrecht und offen in die Welt hinausging und niemand etwas Schlechtes über ihn sagte. Wie er all den schlimmen Dingen dieser Erde stets sein optimistisches Lächeln und seinen einnehmenden Humor entgegenstellte.

Seine vergilbten, ramponierten Finger ließen sie einen Musiker sehen, der am Lagerfeuer Bob Dylan und Joan Baez zitierte, der einzig mit seiner Gitarre hunderte Menschen für eine ganze Nacht in seinen Bann ziehen konnte. Und sich nie etwas daraus machte, beliebt zu sein.

Seine hängenden Mundwinkel erzählten Mia von der großen Liebe, die er zwischen Flower Power und Friedensdemos gefunden hatte. Von der Frau, die aus all den Freigeistern und Aktivisten hervorstach und ihn vom ersten Tag an vollkommen um den Verstand gebracht hatte. Die ihn gefunden hatte, ohne dass er nach ihr gesucht hatte. Die sein Leben vom ersten Tag an auf den Kopf stellte.

Sein faltiges Gesicht träumte noch von ihren unzählbaren Sommersprossen, die um ihre Nase tanzten wie kleine Insekten. Von den beinahe hüftlangen Haaren, die kunstvoll von kastanienbraun in goldblond übergingen und trotzdem ganz natürlich wirkten.

Seine leisen Schritte zeugten von Tagen, an denen die beiden ohne Schuhe die Welt eroberten. Die Beharrlichkeit, mit der sie barfuß durch eine Welt aus Schnellstraßen, Bürokomplexen und Pflastersteinen marschierte, beeindruckte ihn so sehr, dass er es ihr schon nach wenigen Tagen gleichtat. Sie wurden eine Einheit, barfuß gegen Gewalt und für die Liebe.

Doch Mia sah auch seine müden Augen, die die Dunkelheit mit ansehen mussten, die von seiner großen Liebe Besitz ergriff. Die Drogen, die vom lustigen Begleitumstand zum beharrlichen Begleiter heranwuchsen. Die Ausfallerscheinungen, wenn sie von ihnen loszukommen versuchte, und die unberechenbaren Trips, wenn sie es wieder nicht schaffte. Impulsive Gefühlsschwankungen, Streits und eine vollkommen ungeplante Schwangerschaft.

Sein schulterlanges, lichtes Haar zeugte von schlaflosen Wochen, in denen er versuchte, nicht nur die Vater-, sondern auch die Mutterrolle zu bedienen, die sie nicht ausfüllen konnte. Von Tagen, an denen sie das Bett nicht verließ und ihre kleine Tochter nicht anfasste. Tage, an denen er fürchtete, auch sein Kind zu verlieren. Seine Frau nämlich schien bereits gänzlich verloren.

Seine hagere Gestalt konnte die Monate des Hungerns nicht verbergen, denen sie der Drogensucht wegen ausgesetzt waren. Jeder Pfennig war für das Heroin draufgegangen, selbst für sauberes Besteck war nichts übrig. Der Abhängigkeit folgten Depressionen, Angstzustände und Infektionen. Für ein Kind schon längst kein vertretbares Umfeld mehr.

Sein kratziges Husten trägt auch die Spuren eines letzten Aufbäumens in sich. Eines verzweifelten Versuchs, doch noch gegenzusteuern und das Richtige zu tun. Eines Versuchs, ein unschuldiges Wesen aus diesem grausamen Leben zu retten. Aber auch eines Versuchs, der alles nur noch schlimmer machen sollte.

Denn seine eingefallenen Wangen klagen auch das Leid, sein eigenes Kind zu verlieren. Mit ansehen zu müssen, wie Gleichgültigkeit in Trotz umschlägt und eine nahezu zerstörte Mutter ihr Kind nicht hergeben will. Zu erleben, wie eines morgens plötzlich die eigene Familie verschwunden ist und jede Suche erfolglos bleibt. Sich nach jahrelangem Beten damit abfinden zu müssen, sein Kind niemals wieder zu sehen.

Und nun stand er da und blickte dem Zug hinterher, in dem er fast 30 Jahre später einen Hoffnungsschimmer wähnte. Die zerrissene Jeans, die mindestens eine Nummer zu groß war, schleifte bei jedem Schritt auf dem grauen Betonboden und hallte über den gesamten Bahnsteig. Gerade, als die gelb beleuchteten Anzeigetafeln erloschen und er im Dunkel der Nacht zu verschwinden drohte, trat Mia aus dem Schatten der großen Betonsäule hervor.

„Papa! Ich bin hier.“