Er kann die Party schon von Weitem hören. Freudige Begrüßungen, schallendes Gelächter und klirrende Bierflaschen. Es ist wahnsinnig kalt und seine Jackenwahl hatte ganz allein modische und keine praktische Gründe. Trotzdem merkt er, wie er unabsichtlich langsamer wird. Er hält es eigentlich keine Minute länger in dieser eisigen Kälte aus und doch ist da etwas, das ihn scheinbar von der Feier wegstößt. Es ist dieses Gefühl, nicht genau zu wissen, was ihn hinter der Eingangstür erwartet. Oder wer. Als er auf Höhe des Lokals ankommt, bleibt er auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und nimmt einen kräftigen Zug von seiner Zigarette.

Er bläst den Rauch in den sternenklaren Nachthimmel und zieht seinen Schal noch etwas fester. Die Bar ist neben den altmodischen Straßenlaternen die einzige Lichtquelle in der ansonsten wie ausgestorben wirkenden Nebenstraße. Drinnen herrscht bereits ausgelassene Stimmung und das eine oder andere Gesicht kann er von draußen sogar erkennen. Es ist merkwürdig, sie alle gleich nach so vielen Jahren wiederzusehen.

Das Wiedersehen war von einigen wenigen der über 100 Absolventen des Studienjahrgangs von langer Hand geplant und vorbereitet worden. Und nun, beinahe zehn Jahre nach ihrem Abschluss, sollten alle wieder in dieser skurrilen Bar zusammenfinden, die einmal ihre Stammkneipe gewesen war. Die letzten Wochen waren bei fast allen geprägt von purer Vorfreude. Sein schlechtes Gewissen, das kurzzeitig aufflackerte, weil er bei keinem seiner ehemaligen Kommilitonen so wirklich den Kontakt aufrecht erhalten hatte, war schnell wieder verdrängt worden. Sie wollten einfach nur einen unvergesslichen Abend mit alten Weggefährten verbringen und davon ließ er sich gerne anstecken.

Als er die Zigarette auf den Boden wirft und mit seiner rechten Fußspitze ausdrückt, blickt er noch einmal die Straße hinunter. Es kommt ihm fast wie eine Ewigkeit vor, die er nicht mehr hier war. Viel verändert hat sich nicht und er hatte offenbar völlig vergessen, wie schön diese Stadt ist. Trotz Großstadttrubel ist sie nie hektisch gewesen, sondern hatte sich immer eine angenehme Ruhe bewahrt. Obwohl er im Prinzip mitten in der Innenstadt steht, haben diese kleinen Gassen einen wahnsinnig charmanten, beinahe provinziellen Charakter. Die nächsten Clubs und Bars sind nur einen Steinwurf entfernt und trotzdem dominiert der würzige Geruch der Kiefern und das Rascheln der Büsche in seinem Rücken. Es waren eine Menge schöner Dinge, die ihm einmal ein heimisches Gefühl gegeben hatten und ihn dennoch nicht zum Bleiben bewegen konnten.

„Hey, da bist du ja“, schallt es ihm schon entgegen, bevor er ganz durch die Tür ist. „Verdammt, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“ Er hat sofort ein Bier in der Hand und die Wiedersehensfreude ist mehr als ansteckend. Auf dem rustikalen Barhocker zwischen alten Geschichten und längst vergessenen Anekdoten weicht sein mulmiges Gefühl schnell einem zufriedenen Grinsen. Jedes einzelne Gesicht scheint die nostalgische Stimmung durch den gesamten Raum zu tragen. Was bist du alt geworden, denkt er, als sein Blick über die urigen Leuchter und kleinen Kreidetafeln an der Wand gleitet, von denen sich in den letzten zehn Jahren nicht eins auch nur einen Millimeter bewegt hatte.

„Ich bring mal eben das erste Bier weg und schau, wer noch so da ist“, ruft er seinem Sitznachbarn ins Ohr und deutet mit einer nickenden Bewegung in den hinteren Teil der Bar. „Alles klar“, hört er noch, als er zwei Meter weiter schon in der stickigen Menge untertaucht. Den gesamten Jahrgang in diese Kneipe zu zwängen, war ausgesprochen optimistisch. Er schüttelt ein paar Hände, tauscht flüchtige Umarmungen aus und ärgert sich ein ums andere Mal über sein bescheidenes Namensgedächtnis. Und dann, als er beinahe den ganzen Raum durchkämmt hat, sieht er sie.

Die Zeit steht still, als sie sich umdreht und ihm direkt in die Augen sieht. Kurz hat er das Gefühl, er stünde wieder mitten in der Mensa, in der sie sich damals zum ersten Mal diesen innigen Blick zuwarfen. Schon damals hatte dieser mehr als tausend Worte gesagt und auch heute hat er noch das Gefühl, als müssten sie überhaupt kein Wort miteinander sprechen, um sich gegenseitig mitzuteilen, was ihnen durch den Kopf geht. Als sie zu lächeln beginnt, lösen sich auch seine Mundwinkel und er spürt die Wärme, die ihn durchfährt und den kalten Schauer verdrängt. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich aufeinander zugehen und sich sanft in die Arme nehmen.

“Wie lange kann ich dich umarmen, bevor es merkwürdig wird”, ist das erste, was er sagt, und spürt an ihrer Wange, dass sie erneut lächelt. Bei aller Nervosität, die sie noch immer in ihm auslöst, hatte er trotzdem nie Hemmungen gehabt, ihr seine Gefühle völlig offenzulegen. Nicht, dass er sich je aktiv dazu entschlossen hätte. “Mein Freund ist nicht hier, böse Blicke musst du also erstmal nicht befürchten.” Ihr lieblicher Duft überwältigt ihn so sehr, dass er sich fast schämt ihn offenbar vergessen zu haben. Sie küssen sich beinahe zeitgleich auf die Wange und brauchen auch weiterhin nur diesen einen Blick, um alles zu sagen, was einmal wichtig war und wohl auch immer sein wird. “Lass uns rausgehen”, sagt er und wartet gar keine Antwort ab.

Sie werfen sich ihre Jacken über und registrieren nur am Rande, wie ihnen fast jeder hinterherschaut und dabei irgendeinen Blick zwischen mitleidig und zufrieden aufsetzt. Wie von selbst finden sich schon nach wenigen Metern ihre Hände und greifen ineinander. Unzählige Male waren sie in diesem Park, der sich ganz selbstverständlich in die Gassen der Innenstadt einfügt, spazieren gegangen und nie hatten sie gewusst, als was sie wieder herauskommen würden.

Heute ist das anders. Sie wissen beide, dass es nur diesen Abend gibt und nichts, was danach kommt. Sie hatten ihre Zeit, viele Jahre ist das mittlerweile her. “Es haut mich jedes Mal um dich zu sehen.” Wieder kommen ihm die Worte völlig unbekümmert über die Lippen. Genau wie früher. “Ich bin froh, dass du gekommen bist”, antwortet sie. Zehn Minuten gehen sie schweigend durch die Kälte, bis sie sich trauen “Wie geht’s dir?” zu fragen.

Er erzählt vorsichtig von seinen Kindern, von denen sie natürlich schon wusste, und ist sich nicht sicher, ob ihm ihre ehrliche Freude nun behagt oder nicht. Eifersucht zu erwarten wäre mehr als albern und doch fühlt es sich merkwürdig an, ausgerechnet ihr von seinem Glück zu erzählen. Und er ahnt, dass es nicht viel mehr Spaß machen wird, nach ihrem zu fragen. Als sie am Ende des Sandweges an den Bänken am Spielplatz ankommen, setzen sie sich ganz selbstverständlich auf dieselbe wie immer, lassen sich aber nicht eine Sekunde los.

“Ich werd nächstes Jahr heiraten”, sagt sie zögerlich und drückt seine Hand dabei minimal aber spürbar fester. “Letzten Monat hat er mir in Australien den Antrag gemacht und im Sommer ist die Hochzeit.” Er ist überrascht, wie weich ihn dieses Bekenntnis trifft. Noch vor wenigen Jahren hätte ihn diese Neuigkeit wahrscheinlich völlig aus der Bahn geworfen aber heute gelingt es ihm sogar, sich ein wenig für sie zu freuen. Sie wussten beide, dass ihre Leben weitergehen und an solche Punkte gelangen würden. Vielleicht ist außer Melancholie ja auch gar nicht so viel geblieben, wie er seinen engen Freunden gegenüber hin und wieder anklingen lässt.

Es war eine dieser unendlichen Geschichten, wie sie große Träumer und Dichter schon zuhauf verfasst hatten. Undefinierbare Anziehung, falsche Zeitpunkte und gebrochene Herzen. Er war sich lange Zeit sicher, dass er eine wie sie nie wieder finden würde und tröstete sich mit der Vorstellung, dass es ihr ähnlich ging. Das hatte sie zwar nie gesagt aber er glaubte es zu wissen. Und irgendwie machte es das erträglicher. Er hielt sie immer in Ehren, anstatt sie zu hassen, und trug sie immer bei sich, bei jedem neuen Kapitel, das er ohne sie aufschlug. Das tut er noch heute.

“Ich freu mich, dass du glücklich bist.” Und das ist die Wahrheit. Alles andere sind verfärbte Erinnerungen und nostalgische Schwärmereien. Man wird erwachsen und das Leben geht weiter. Zumindest würde er mit dieser Weisheit als Außenstehender um die Ecke kommen. Aber ihre Hand wird er nicht loslassen. Und sie auch nicht. Es ist dieser Zauber einer unvollkommenden Sequenz in der Vergangenheit, der sie auch nach Jahren jedes Mal ein Stück weit gefangen nimmt. “Ich hasse es, dass wir uns nachher wieder für eine Ewigkeit verabschieden müssen”, sagt er, bevor er sie küsst. Aber das ist gut so, auch das ist die Wahrheit. Manchmal muss man Dinge vielleicht einfach auf sich beruhen lassen.