Während ihr Blick langsam über den fast verlassenen Bahnsteig gleitet, kramt sie ihre Kopfhörer aus der Jackentasche, schmeißt einen melancholischen Singer/Songwriter an und atmet lange aus. Sie mag es, dass die Kopfhörer sie von beinahe jedem Geräusch ihres Umfelds isolieren. So hat sie nur die schönen Bilder – hunderte Menschen, hunderte Geschichten, von Musik untermalt. Sie träumt vor sich hin, spielt nur die Beobachterin, gibt jede Hauptrolle auf, die sie in ihrem eigenen Leben zu spielen hat.

Als sie im Zug Platz nimmt, loggt sie sich mit ihrem Tablet ins WLAN ein, klickt ihren Lieblingsblog an und versinkt in einem Text über eine unglücklich verliebte Weltenbummlerin und einen unnahbaren Isländer. Themen, die sie noch immer fesseln und faszinieren, obwohl sie in ihrer eigenen Lebensgeschichte eigentlich schon länger nicht mehr vorkommen. Die Weltenbummlerin würde sie darum beneiden und vermutlich auch sonst jeder alleinstehender Romantiker, aber sie fühlt sich angezogen von diesen Gefühlen. Von Herzschmerz, von unerwiderter Leidenschaft, von der Ungewissheit.

Sie ist nicht unglücklich mit ihrem Leben, ganz im Gegenteil. Sie hat einen wunderbaren Freund, den sie liebt, einen aufregenden Job, wohnt in einer tollen Wohnung in einer tollen Stadt und hat eigentlich überhaupt nichts zu beklagen. Sie sitzt auch nicht ständig auf der Couch und träumt davon, auszureißen. Auszubrechen und ihr Leben hinter sich zu lassen. Nur ab und zu vielleicht.

Am stärksten ist dieses Gefühl, wenn sie nicht zuhause ist. So wie jetzt. Wenn sie sieht, was die Welt noch alles zu bieten hat. Wenn sie auf ihren Reisen mit Menschen ins Gespräch kommt, die aufregendere Geschichten zu erzählen haben als sie. Die jedes Jahr in einem anderen Land leben, die jeden Sommer zwei Monate couchsurfen, die um die halbe Welt fliegen, um ihre erste Liebe wiederzufinden. Diese Menschen haben alle nicht das, was sie im Leben hat. Und manchmal beneidet sie sie darum.

Logisch erklären kann sie sich das nicht. Sie versucht es gern mit der abgedroschenen Floskel “Man will immer das, was man nicht hat” aber manchmal hat sie Angst, dass diese Begründung nicht ausreicht. Dass sie stattdessen gar nicht fähig ist, ein so ausgefülltes Leben zu leben und wertzuschätzen. Dass sie chronisch rastlos ist und immer sein wird. Sie hofft, dass diese Angst irgendwann die Koffer packt und verschwindet. Für immer. Damit sie endlich leben kann.

Ein paar Mal war sie schon guter Dinge. Sie hat es schon über Monate geschafft, ihr Glück zu genießen und aufzuhören, suchend in die Ferne zu schauen. Doch sie ist bisher noch jedes Mal rückfällig geworden. Immer, wenn sie überhaupt keinen Grund dazu hatte, fand sie sich mit Musik in den Ohren auf einer Wiese wieder und blickte in den Sternenhimmel.

Und dann träumt sie wieder. Von vergangenen Reisen und von all denen, die sie noch machen will. Von Zeiten, in denen sie unglücklicher war und von Problemen, die sie nie wieder haben wollte. Und dann, manchmal, schreibt sie einen Song darüber. Unzählige Male hatte sie sich schon vorgenommen, die Gitarre häufiger in die Hand zu nehmen. Ihr Talent zu einem regelmäßigerem Hobby und vielleicht sogar zu noch mehr auszubauen. Um vielleicht auf diesem Wege ihrem spießigen Leben auf kontrollierte Weise zu entfliehen. Der Kunst nachzugehen, la bohème in ihr Leben und dieses bereichern zu lassen. Leider hat das nie wirklich funktioniert. Sie musste feststellen, dass sie nur dann wirklich kreativ war, wenn sie unzufrieden war. Wenn der Blick suchend in Richtung Sterne wanderte und ihr ausgefülltes Leben ihr mal wieder nicht reichte. Ansonsten fühlte es sich wie Arbeit an.

Sie hat aber genauso festgestellt, dass sie auch genug haben kann von dieser Grübelei. Sie kann nicht wochenlang dasitzen und von einem anderen Leben träumen. Deshalb könnte sie vermutlich auch niemals ein ganzes Album einspielen, dafür wäre sie nie lange genug unglücklich. Sie ist nämlich durchaus noch zur Selbstreflexion fähig. Sie weiß, dass sie gar nicht die Energie hätte, ständig nur unterwegs zu sein. Sie weiß, dass es albern ist, nach Herzschmerz zu schmachten, während der geliebte Partner neben einem im Bett liegt. Und sie weiß auch, was passieren würde, wenn sie alles stehen und liegen lassen würde, um fünfhundert Kilometer zu ihrer ersten großen Liebe zu fahren, die sie nicht vergessen kann. Sie würden einige überschwänglich glückliche Monate haben – ein paar mehr vielleicht, weil diese romantische Wendung wie in einem Film anmuten würde – und dann läge sie irgendwann wieder irgendwo im Gras, den Blick gen Himmel gerichtet.

Auf eine ziemlich irrsinnige Weise macht ihr dieser Blickwinkel Mut. Zwar impliziert er, dass sie zu dauerhaftem Glücksempfinden wohl wirklich nicht fähig zu sein scheint. Aber er verrät ihr auch, dass auf nachdenkliche, alles in Frage stellende Phasen immer auch wieder glückliche Phasen folgen werden. Sie muss einfach nur darauf warten und sich selbst nicht zu ernst nehmen.

Als sie aus dem Zug steigt, hat sie nur noch fünf Minuten Fußweg zu ihrer gemeinsamen Wohnung. Sie geht sehr langsam, will diesen Moment mit sich allein so lange wie möglich auskosten. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, hofft sie, dass sie morgen wieder zufriedener sein wird.