Während er die Straße fixierte, spürte er, dass auch sie krampfhaft durch die Windschutzscheibe starrte. Ihn nicht ansah, um in seinem Gesicht einen Entschluss zu erahnen. Dass sie ihn einfach fahren und ihm die Kontrolle über Route und Zukunft ließ. Vielleicht, weil sie es gar nicht wissen wollte. Vielleicht aber auch, weil sie es schon kommen sah, noch bevor seine linke Hand sich in Richtung Blinker bewegen konnte.

Drei Monate hatten sie auf diesen Ausflug hingefiebert und ihn viel länger schon geplant. Ihn sich zuerst in tagträumerischen Sequenzen ausgemalt, während sie Arm in Arm in einem viel zu schmalen Bett lagen. Ihn dann minutiös durchkonzipiert und diesen Entwurf dann erst einmal für ein halbes Jahr in dieser einen Schublade abgelegt, in der schon zahlreiche andere dieser Art lagerten. Entwürfe für ein Leben, das von ihrem so unglaublich weit weg zu sein schien.

Sie lebten weiter, wie bisher. Mal sahen sie sich, mal nicht. Mal schrieben sie, mal nicht. Konstant unkonstant. Doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ohne, dass sich an ihrer Situation etwas geändert hätte, wussten sie einfach, dass sie losfahren mussten. Und so saßen sie bald in ihrem kleinen Zweisitzer in Richtung Belgien. Er hinter dem Steuer und sie neben ihm – weil sie ihn immer fahren ließ, wenn eine Tour länger als 20 Minuten dauern sollte.

Die erste Rast machten sie kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze. Sie wollte sich etwas zu Trinken kaufen, obwohl sie sonst mit einem Glas Wasser durch den ganzen Tag zu kommen schien. An einer heruntergekommenen Raststätte, die auch in der hintersten Provinz statt in der Nähe des Ruhrgebiets hätte liegen können, fuhren sie auf den verlassenen Parkplatz.

Sie warfen sich für die wenigen Meter keine Jacken über und er musste grinsen, als sie bereits im Moment des Aussteigens das Gesicht verzog. Bei strahlendem Sonnenschein und fast 15 Grad. Und ab diesem Zeitpunkt war sie dann auch verschwunden, diese Bedrücktheit. Dieser paradoxe Schmerz, der immer genau dann auftauchte, wenn das tage- oder wochenlange Warten auf ein Wiedersehen eigentlich gerade ein Ende, er aber schon wieder den traurigen Abschied vor Augen hatte. Beim Hineingehen nahm er ihre Hand. Zum ersten Mal an diesem Tag. Weil sie sich hier draußen endlich frei fühlten.

Ihre Unterkunft lag unweit von der Innenstadt entfernt. Der verrückte Spanier hinter dem Empfangstresen erläuterte ihnen überschwänglich die Gepflogenheiten des Hostels und hörte auch beim Übergeben der Zimmerkarten nicht auf zu strahlen. Im Treppenhaus dann die Gewissheit: Sie sind da. Viel wichtiger noch: Sie sind weg. Weg vom eigentlichen Leben und angekommen in ihrem ganz eigenen. In einem Leben, das parallel zur Realität existierte.

Sie ließen sich einfach treiben an diesem ersten Abend. Schlenderten in Richtung Stadtkern, überquerten die Ezelsbrug und folgten dem Kopfsteinpflaster bis zum Marktplatz vor dem Belfried. Vor ihren Augen spielte sich ein Treiben ab, das für dieses beschauliche Städtchen beinahe unpassend wirkte. Sie sprachen kaum, während sie durch die wuselige Innenstadt streiften, doch allein der Druck ihrer Hände, an denen sie sich hielten, konnte eine ganze Gefühlswelt beschreiben. Auf der Brücke zum Vismarkt küssten sie sich lange.
“Es fühlt sich so normal an”, flüsterte sie und er wusste genau, was sie meinte. Denn er spürte es auch. Es fühlte sich richtig an.

So beharrlich, wie sie die Zukunft auszusperren versuchten, um die Gegenwart nicht zu gefährden, so klar war ihnen auch, dass sie irgendwann darüber sprechen mussten. Über ihre Beziehung, die keine war und seit Monaten danach schrie, dass man ihr eine Definition schenkte. Über große Entscheidungen und alltägliche Kleinigkeiten. Über alles, was sie bislang nicht waren. Und sie wussten auch, dass sie vermutlich keinen kompletten Kurzurlaub mit ihrem Vermeidungsverhalten durchstehen würden.

“Haben wir einfach nur ein beschissenes Timing?”, murmelte sie, während sie Unmengen an Zucker in ihren Cappuccino kippte, um möglichst wenig Espressogeschmack übrig zu lassen. Die belgische Waffel glich einem Gemetzel.
Es war für ihre Verhältnisse fast schon ein Gefühlsausbruch und er spürte, dass er sich beeilen musste, ihn am Leben zu halten. Immer wieder hatte er sie hervorlocken müssen, wenn sie sich mit ihren Gedanken, die er ihr so eindeutig an ihren braunen Augen ablesen konnte, zurückzog. Nicht immer war es ihm gelungen.
“Eigentlich glaube ich das nicht.”
Zu allumfassend und zeitlos waren doch die Dinge, die zwischen ihnen standen. Sein fast spießig anmutender Wunsch nach Sesshaftigkeit, den sie nicht teilte. Ihre Sprunghaftigkeit, die sie kaum mal zwei Jahre in derselben Stadt, geschweige denn im selben Job hielt. Diese so vollkommen verschiedenen Standpunkte, von denen aus sie auf das Leben blickten. Wie lange kann man um die Frage, ob Verliebt- und Vertrautheit allein als Nährboden ausreichen, herumtänzeln, wenn einem die Antwort längst dämmert?

Die Wahl zwischen Schwarz und Weiß vor sich herzuschieben, war ihm ein Leichtes, weil sich mit ihr ohnehin alles in Grau abspielte. In einem leuchtenden und farbenfrohen Grau. Mal aschfarben, wenn sie sich auf einer Küchenparty nicht weniger harmonisch vorkamen als befreundete Paare. Dann wiederum bedrohliche Anthrazittöne, wenn sie ihre Abenteuerlust nach außen kehrte, der er sich so gar nicht anschließen konnte. Es stimmte schon, wenn sie sagte “Gegensätze ziehen sich an”. Er war sich bloß nicht sicher, ob sie auch eine Zukunft haben.

Auch ihr zweiter Abend endete wie die allermeisten vor ihm. Mit viel Wein und wenigen Erkenntnissen, vielen Gefühlen und wenig Vernunft. Mit einer Stille, deren Lautstärke sie fast erdrückte.

Sie sprachen kaum ein Wort auf der Rückfahrt und hatten Mühe zu ignorieren, dass selbst der Spanier beim Checkout nicht mehr gestrahlt hatte. Ein Heimweg, der sich eher nach Abschied anfühlte. Sie hielten sich stundenlang an den Händen.

Und dann kurz vor dem Kreuz Aachen die alles entscheidende Frage: Richtung Norden oder einfach immer weiter auf der A4? Resignation oder Wagnis?
“Glaubst du, es könnte funktionieren?”, fragte er kaum hörbar und ohne auf irgendeine Antwort vorbereitet zu sein. Sie rührte sich erst nicht, nur ein tiefes aber leises Einatmen war zu hören.
“Ich glaub’ an alles, was mich bewegt.”

Noch fünfhundert Meter bis zur Ausfahrt.