„War ja klar, dass so einer es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nimmt“, flüstert die gänzlich ergraute Dame in schnippischem Ton ihrer Bekannten zu, die ihrerseits nur verächtlich nickt. Sie rückt auf der stählernen Bank ein Stückchen nach vorn, um nun betont aufrecht zu sitzen, ohne sich mit dem Rücken anzulehnen. In ihrem sandfarbenen Mantel und dem weinroten Schal ist sie bemüht auszustrahlen, dass Busfahren eigentlich unter ihrer Würde ist. Thomas könnte sie sich genauso gut in einem schwarzen Bentley mit Chauffeur vorstellen.

Ihre Sitznachbarin an der Haltestelle wie im Bus dürfte kaum älter sein, ist noch im Besitz ihrer Haarfarbe – zumindest sieht das Braun für Thomas’ Augen sehr natürlich aus – und hat es sich zur Marotte gemacht, ihrer Gefährtin grundsätzlich in allen Punkten zuzustimmen. Dabei lässt sie keinerlei Sarkasmus erkennen; sie scheint tatsächlich jedes Mal derselben Meinung zu sein oder über diese hinaus einfach keine Eigene zu haben.
„Wahrscheinlich können wir noch froh sein, dass er die letzten Wochen überhaupt gefahren ist. Da, wo der herkommt, sind die Fahrpläne bestimmt bloß grobe Richtwerte“.

Beinahe hätte Thomas verächtlich geschnaubt und er hat Angst, dass ihn der kurze Nebelstoß seiner Atemluft verrät. Nicht nur, dass Farid eine wahre Institution und mit diesem alten Schlachtschiff pünktlicher ist als sonst jedes öffentliche Verkehrsmittel in Deutschland. Er ist außerdem Franzose; mit algerischen Eltern zwar aber da, wo der herkommt, hatte Thomas noch nie etwas vom Totalversagen aller Buslinien gehört.

Dieses Detail weiß er um ehrlich zu sein auch nur zufällig. Als Farid vor ungefähr drei Monaten zum ersten Mal auf dieser Strecke eingesetzt wurde und Thomas wie immer als einziger vorne eingestiegen war, hatte er ihn gebeten, neben ihm stehen zu bleiben, um ihm bei der neuen Route zu assistieren. Thomas half gern und Farid drückte seine überschwängliche Dankbarkeit im Erzählen seiner Lebensgeschichte aus.

Als die gelben Ziffern auf der Anzeige auf „7:20“ umstellen und der Linienbus noch immer dunkel und unberührt in seiner Parkbucht steht, ist allerdings auch Thomas etwas besorgt. In diesem völlig abgeschiedenen Örtchen hatte es auch vor Farids Zeit nie einen Anlass gegeben, der einen Fahrer daran hätten hindern können, um exakt 7:00 Uhr vom Busbahnhof zu rollen. Keine Baustellen, keine Umleitungen, gar nichts. Seit er denken kann, steigen hier jeden Morgen dieselben sechs Personen um 06:59 Uhr in den rostigen Bus und noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hat, beschimpft er sich innerlich selbst für diesen Anflug von Spießigkeit. Besorgt ist er im Übrigen tatsächlich um Farid. Ob er selbst nun um halb acht oder um neun im Büro auftaucht, ist ihm und allen anderen vollkommen egal. Aber ein Mann der so voller Stolz seiner Tätigkeit nachgegangen war, wird kaum eines Morgens beim Weckerklingeln gedacht haben „Ach, heute mach ich mal blau!“. Andererseits ist es auch schwer vorstellbar, dass hier in der tiefsten Provinz ein Ersatzbusfahrer für den Krankheitsfall vorgehalten wird.

„Soll vielleicht einer von uns mal bei der Busgesellschaft anrufen?“, fragt der Mann mit dem hellgrauen Trenchcoat und der abgewetzten, braunen Ledertasche. Als Antwort erntet er nur erschrockene Gesichter, denn dass hier abgesehen von der weiblichen Ausgabe von Waldorf und Statler auch nur irgendwer mit irgendwem spricht, ist so überraschend wie einmalig. Thomas ist sich sicher, in sieben Jahren nicht einmal die Stimme dieses Mannes gehört zu haben.

„Am besten lassen Sie sich gleich zum Geschäftsführer durchstellen“, tönt es von der Bank, als ein dunkelgrauer Audi Q7 um die Ecke geschossen kommt, mitten auf der Busspur hält und Farid auf der Beifahrerseite hastig aussteigt. Den Fahrer, der eine frappierende Ähnlichkeit zu Farid aufwies, kennt Thomas nicht und er hasst sich umgehend dafür, dass sein erster Gedanke nicht Erleichterung, sondern „Woher hat so jemand so ein Auto?“ ist.

Um 07:39 Uhr fährt die Linie 231 am Busbahnhof ab. Farid hatte sich mehr als ein Dutzend mal bei allen entschuldigt und ist nun sichtlich überfordert damit, die richtige Mischung aus zügiger und der Wetterlage angemessener Fahrweise zu finden. Thomas’ Hilfsbereitschaft vor einigen Monaten hatte er offenbar nicht vergessen, denn stellvertretend für alle Fahrgäste erzählt er ihm den Grund für die ärgerliche Verspätung. Er war wieder einmal von der Polizei angehalten worden und aus einer allgemeinen Verkehrskontrolle wurden Alkotest, auf einer Linie gehen und Urinprobe. Alles negativ natürlich, er würde niemals morgens oder gar am Abend vor der Arbeit trinken, geschweige denn Drogen nehmen, und außerdem müsste ihn doch langsam jeder Polizist im Umkreis von 30 Kilometern schon einmal kontrolliert haben. Und als er dann, ohnehin bereits zu spät, weiterfahren wollte, sprang sein alter Opel wohl aufgrund des Frosts nicht wieder an. Der Streifenwagen war schon über alle Berge und der Illusion, dass in dieser Gegend irgendjemand vorbeikommen und dann gar anhalten und überbrücken würde, hatte sich selbst Farid nicht hingeben wollen. Und so musste er noch einmal 15 Minuten auf seinen Bruder warten, der extra sein erstes Meeting verschob, um ihn abzuholen und zum Busbahnhof zu bringen.

Es tue ihm unglaublich leid. Thomas macht eine abwehrende Handbewegung und blickt in Richtung der anderen Fahrgäste. Waldorf und Statler genügt das offensichtlich nicht.