Endlich schaltet er sie ganz ab. Das wilde Flackern der Mittelgangbeleuchtung hätte mir fast Kopfschmerzen bereitet aber offenbar war ich nicht der Einzige gewesen, dem es so ging. Der eine oder andere Fahrgast war mit genervter Miene zur Suche nach einem Schaffner aufgebrochen und irgendeiner von ihnen muss nun Erfolg gehabt haben. Lediglich die kleinen Spots über den Sitzreihen werfen noch ein gedimmtes Licht über die Köpfe der Reisenden. Ohne, dass vorher viel gesprochen worden war, scheint es mit der Dunkelheit auch stiller geworden zu sein. Das Rauschen der Räder auf den Schienen verstummt allmählich, das Auf- und Zuschieben der Zwischentüren geschieht geräuschlos, Menschen unterhalten sich ohne Stimme und Haltestellenansagen gibt es nicht mehr. Der einzige Ton, der noch hörbar durch den Wagon hallt, ist mein sich alle vier Sekunden wiederholendes Ausatmen, das mir bei geschlossenem Mund beinahe wie ein Schnauben vorkommt. Ich schließe die Augen und konzentriere mich ganz auf die Lautstärke meiner Atmung, verlangsame sie, verflache sie. Ich zwinge mich fast, überhaupt nicht mehr zu atmen, um in dieser raumgreifenden Stille unterzugehen und langsam vollständig zu verschwinden.

Der Tag seiner Beerdigung ist gleichzeitig auch der Tag gewesen, an dem wir uns das letzte Mal im Arm lagen. An dem ich dich ein letztes Mal an mich herangelassen habe, wenn auch nur aus Hilflosigkeit. Im einsamsten Moment meines Lebens, als ich in der gesamten Trauergemeinde nicht eine Person wähnte, die mein Leid ansatzweise nachempfinden könnte, warst du da und bemüht, nichts als Stärke auszustrahlen. Während erste Schneeflocken die besinnlichste Zeit des Jahres einzuläuten versuchten und mir eine herzlose Krankheit gerade ein riesiges Loch in mein Leben gerissen hatte, hast du mich umarmt, wie es sonst niemand hätte tun können. Und trotzdem wollte ich dir keine der vielen Rollen zugestehen, die du in den Wochen und Monaten zuvor so selbstlos ausgefüllt hattest.

Ich blicke kurz hoch, als ein freigemachter, grauer Streifen Asphalt das unendliche Weiß ablöst. Ich lese die Schrift auf dem dunkelblauen Schild und weiß sofort, dass es noch vier Haltestellen bis zu meinem Ausstieg sind. Zwei Menschen steigen ein, drei steigen aus. Der kleine Ort erscheint zu dieser Uhrzeit wie ausgestorben. Das wirkte er immer schon, auch am hellichten Tag, wenn ich früher auf dem Rückweg von einem durchzechten Wochenende in diesem Zug saß und auf das gesperrte Bahnhofsgebäude blickte. Hier an der Pforte zur Provinz fängt es langsam an, auf mich zu wirken. Das Gefühl von Heimat. Vertrautheit. Erinnerungen.

Er war vermutlich keine zwei Wochen tot, da musstest du schon das erste Mal daran gedacht haben, aufzugeben. Mich aufzugeben. Ich hatte die Trauerfeier als Erster verlassen und von da an nicht mehr aufgehört, mich volllaufen zu lassen. Bier zum Frühstück, Whiskey zum Abendessen. Und dazwischen ein Nichts in seiner klischeebeladensten und erbärmlichsten Urform. Gespräche, Körperhygiene, Uhrzeiten – nichts hatte mehr eine Bedeutung. Es gab nur noch diese trostlose Einöde zwischen Aufwachen und Einschlafen. Und nicht einmal mehr die Frage, wie man diese Spanne übersteht. Irgendwann schienst auch du diese Frage nicht mehr zu stellen, sondern mich nur noch mir selbst zu überlassen. Wer hätte es dir verübeln können. Ich selbst hatte mich schon lange dem Nichts überlassen.

Noch zwei Haltestellen, dann muss ich mich nach über drei Stunden von diesem Doppelsitz erheben. Ich habe die gesamte Fahrt über die Vorstellung vom ersten Wiedersehen gemieden. Wir würden uns umarmen, sicher, trotzdem habe ich Angst. Vor deinem vorwurfsvollen Blick. Vor deiner Wut auf mich. Vor den Entschuldigungen, die du von mir erwarten wirst. Vor dem zweiten Weihnachtsfest, an dem es zwar bestimmt wieder Frank Sinatra und Orangenschokoplätzchen aber eben auch nur noch uns beide gibt.

„Ich kann nicht mehr“, hattest du eines Morgens gesagt. Ich saß wie üblich mit ausdrucksloser Miene am Frühstückstisch ohne Frühstück und hatte seit dem Aufwachen noch kein Wort gesagt. „Ich will, dass du dieses Wochenende ausziehst.“ Ich war nie offiziell eingezogen und zahlte auch weiterhin für meine Ein-Zimmer-Wohnung, allerdings hatte ich diese seit Wochen nicht betreten. Selbst Kleidung zum Wechseln hatte ich mir nicht selbst holen müssen. Irgendwie schien ich stillschweigend zum Inventar deiner winzigen Dachgeschosswohnung geworden zu sein, bis meine Anwesenheit offensichtlich nicht mehr zu ertragen gewesen war. Ich hatte noch am selben Abend meine wenigen Sachen zusammengesucht und mich aus dem Staub gemacht. „Kein Problem, ich versteh schon“, hatte ich gesagt und es durchaus ernst gemeint. Doch verstanden hatte ich rein gar nichts.

Der Zug rollt in den winzigen Bahnhof ein und während mein Blick über das Nachbargleis wandert, wird mir klar, dass wir keinen Treffpunkt besprochen oder sonst eine Vereinbarung getroffen haben. Ich hatte dir meine Ankunftszeit geschrieben und war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass du mich abholen würdest. Während ich mir im Aufstehen den Mantel überwerfe, kann ich dich auf dem Bahnsteig allerdings nirgendwo entdecken. Die eine flackernde Laterne leuchtet zwar nur einen kleinen Bereich vor dem Bahnhofsgebäude aus, doch auch etwas weiter in Richtung Fahrradstand sind keine menschlichen Umrisse zu erkennen. Ich steige als Letzte der vier wartenden Personen aus dem Abteil und versuche mich zu erinnern, ob der Weg durchs Wohngebiet oder an der Hautstraße entlang kürzer war.

„Ich kann nicht mehr“, hattest du gesagt und mir meine Einsicht wohl nicht eine Sekunde abgekauft. Keine zwei Wochen hatte es gedauert, bis mich dein Brief erreichte: „Hallo Markus. Ich hoffe, es geht dir langsam etwas besser. Ich kann nur schwer erahnen, mit welchem Gefühl mir gegenüber du abgereist bist aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich unverstanden gefühlt hast. Denn natürlich verstehe ich deinen Schmerz, wer könnte das besser als ich? Aber drei Monate unter der Überschrift zu leben, dass nur du allein Anspruch auf diesen Schmerz hast, war irgendwann nicht mehr auszuhalten. Sicher, euer Verhältnis war besonders, einzigartig vermutlich. Aber nicht nur du hast deinen Vater verloren, das haben wir beide. So verschieden unsere Beziehungen zu ihm auch waren, auch ich leide unter seinem Tod. Ich hoffe wirklich, dass du das irgendwann akzeptieren kannst.“

Als ich über den klebrigen Fußboden des heruntergekommenen Bahnhofsgebäudes trotte, fingere ich in der Jackentasche an dem zerknickten Brief herum. Mit jedem Tag, den ich nicht darauf geantwortet hatte, war mein schlechtes Gewissen gewachsen. Ich schlendere die schneebedeckten Stufen am Ausgang hinunter und auf dem Parkplatz gegenüber sehe ich dich mit einem Mal. Noch bevor ich es richtig begreife, stehe ich direkt vor dir. Und die Angst ist verschwunden. „Hey Bruderherz“, sagst du und nimmst mich in den Arm. Und dann kann ich es plötzlich hören, kann es riechen. Sinatra, die Orangenzeste, die feuchten Tannennadeln. Und ich spüre nichts als Wärme.