“Und, ist es so gut, wie alle sagen?”
Ich reagierte erst nach drei Sekunden, weil mir gar nicht klar war, dass die Frage mir gegolten hatte. Erschrocken blickte ich auf und sah in das erwartungsvolle Gesicht einer Frau, die ich etwas jünger schätzte als mich, Ende 20 vielleicht. Sie trugt einen weinroten Mantel, einen dunkelgrauen Schal und dazu passend eine dunkelgraue Wollmütze, unter der sich ihre braunen Haare den Weg bis zwischen die Schulterblätter hinab bahnten. Ich fragte mich kurz, ob ich über die letzten Kapitel eine ganze Jahreszeit verpasst hatte, ich war nämlich vorher noch in Lederjacke aus der Wohnung spaziert. Aber für diese Frau fiel der November offenbar schon in den Winter. Aus drei Sekunden waren mittlerweile sicherlich zehn geworden.

“Sorry, wie bitte?”
“Das Buch. Der neue Don Winslow. Ist er so gut wie die ersten beiden Teile?”
Ich blickte hinunter auf Jahre des Jägers und ärgerte mich ein wenig. Es war so gut, wie alle sagen, ja. Und es kam mir wie eine Filmszene vor, im Sessel eines hippen Cafés auf einen Roman angesprochen zu werden, den ich las. Ich wollte allerdings lieber herausposaunen, dass ich abgesehen von diesem Autor eigentlich nie Thriller lese. Ich unterdrückte den Anflug von Überheblichkeit schnell wieder.
“Ja, ist es. Aber auch nichts für schwache Nerven.”
Ich ärgerte mich wieder und hoffte, dass sie mir diese Floskel nicht als Machismo auslegen würde, denn ich hatte tatsächlich ausdrücken wollen, dass mir der Stoff ganz schön an die Nieren ging.
“Ich fand die ersten beiden Teile auch ziemlich heftig. Aber aufhören konnte ich trotzdem nicht.”
Keine Missverständnisse, angenehm. Nur fiel mir weiter nichts ein, weil ich noch immer völlig überfahren von dieser Filmszene-Sache war.

“Ist dir kalt?”, fragte ich sie bemüht lächelnd, als mir die Stille fast unangenehm wurde. Sie lachte laut auf und streifte sich die Mütze herunter.
“Darf ich?” Sie deutete auf den zweiten Sessel neben mir.
“Klar”, entgegnete ich, während ich aufgrund der tief stehenden Sonne, die in ihrem Rücken durch die bodentiefen Fenster strahlte, nur etwas unbeholfen in ihre Richtung blinzeln konnte.
Sie stellte ihre schwarze Handtasche auf den Fußboden und legte Jacke und Schal ab. Ganz behutsam und in aller Ruhe. Aber nicht mit triumphaler Überlegenheit, als hätte sie meine Überraschung genossen und mich absichtlich auf die Folter gespannt. Nein, eher, als wären wir verabredet gewesen, als würde es auf diese wenigen Sekunden nun wirklich nicht mehr angekommen. Als hätten wir uns schon lange gekannt.

“Und, wie geht’s weiter? Ich habe gelesen, Art Keller wird zum Chef der DEA befördert?”
Das Lächeln, mit dem sie auf meine ausbleibende Antwort reagierte, ließ mich hoffen, dass mein irritierter Gesichtsausdruck zumindest nicht vollkommen unhöflich wirkte.
“Was ist?”, fragte sie unbeschwert. “Ich habe dich jetzt schon zum zweiten Mal mit einem Buch hier sitzen sehen und fand diesen Anblick immer irgendwie total sympathisch. Diesmal wollte ich nicht einfach weitergehen.” Nun musste ich tatsächlich lachen; das bedingungslose Strahlen und ihr unbekümmerter Redefluss hatten mich definitiv vereinnahmt. Und so erzählte ich ihr von Art Keller, Adán Barrera und dem mexikanischen Drogenkrieg – stets bemüht, nicht zu viel zu verraten.

Letztlich landeten wir dann doch bei der Frage, was sich sonst in meinem Bücherregal tummelt. Nachdem ich bei all ihren Lieblingsautoren nur entgegnen konnte, dass ich sie zwar kannte aber nie gelesen hatte, fühlte sie sich offenbar ein wenig genötigt nachzufragen. Von literarischen Gemeinsamkeiten konnten wir nun wirklich kein Lied singen aber ich nahm die Gelegenheit nur zu gern wahr, von Thommie Bayers wunderbaren Erzählungen zu schwärmen. Meinen Lieblingsroman, Vier Arten die Liebe zu vergessen, notierte sie sich sogar. Ihre Begeisterungsfähigkeit faszinierte mich. Meine eigene Verbohrtheit war mir im Gegensatz dazu schon beinahe unangenehm.

“Und all diese gefühlvollen Romane liest du dann einsam und allein in diesem Sessel oder wie muss ich mir das vorstellen?”
Ihr prüfender Blick machte mich tatsächlich ein wenig verlegen, auch wenn er zweifellos liebevoll gemeint war. Der latente Hang zum Eigenbrötlerischen war ihr in unserem bisherigen Gespräch sicher nicht verborgen geblieben und wie viele Menschen setzen sich schon allein ins Café, um dort ein Buch zu lesen. Ich mochte es, doch solch einem Gehabe schien noch immer irgendetwas Bemitleidenswertes anzuhaften. Aber unser bislang so offener Umgang machte es mir leicht, mich nicht zu genieren.
“Wie gesagt”, kam sie mir zuvor, “für mich klingt das ganz schön. Mein Leben ist dagegen im Augenblick ziemlich gehetzt. Mir gefällt es so aber Urlaub könnte ich trotzdem vertragen.” Mit einem selbstironischen Augenrollen nickte sie in Richtung ihres Schals und ihrer Mütze. “Mir ist es hier schon wieder viel zu kalt. Kannst du was empfehlen?”
Es schienen zwei wahnsinnig unterschiedliche Welten zu sein, die hier aufeinanderprallten, und doch nahm mich eine Wärme und Vertrautheit in Beschlag, die ich nur schwer hätte beschreiben können. Ihre Aufgeschlossenheit ließ alles Fremde verfliegen.

Ich hoffte, dass mein Grinsen nicht allzu viel Desillusionierung hinsichtlich unseres nächsten Gegensatzes offenlegte.
“Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen, meine Urlaubsziele wären eher Island, Norwegen oder Alaska.”
Um ihren skeptischen Blick zu entkräften, musste ich weit ausholen. Von einfachen Reisebloggern kam ich über Catherine Poulain bis hin zur tragischen Geschichte von Christopher McCandless. Vielleicht war es auch erst das klischeehafte Bild einer einsamen Blockhütte mit Kamin im nordamerikanischen Schnee aber ihr Interesse schien schlussendlich doch geweckt. Und ihre Begeisterungsfähigkeit faszinierte mich erneut.

“Manchmal könnte ich wirklich ganz gut mal für ein Weilchen aus der Realität ausbrechen”, sagte sie überraschend nachdenklich, während sie Handtasche, Schal und Mütze zusammensuchte. Die Gegensätzlichkeit auch in ihrem Wesen erstaunte mich etwas. Die grenzenlose Fröhlichkeit auf der einen und die nur zu erahnende Bedrücktheit auf der anderen Seite, die einen ständigen, kleinen Kampf miteinander auszutragen schienen.
“Tut mir leid, ich muss tatsächlich schon zur nächsten Verabredung hetzen. Mein bester Freund zieht nächste Woche um, das ist sein letzter Samstagabend hier.”
“Ich hoffe, du hast ihn wegen mir nicht warten lassen”, antwortete ich bemüht schuldbewusst.
“Nein nein, er würde mich wahrscheinlich sogar ermutigen, noch sitzen zu bleiben.” Ihr Lächeln steckte an. “Ich hoffe, wir sehen uns wieder”, sagte sie schon im Stehen.
“Das hoffe ich auch”, antwortete ich, unsicher, ob es eine Frage oder eine bloße Feststellung von ihr war.
“Spätestens in Alaska.”