Eigentlich wollte er nur noch nach Hause. Er schmiss die letzten Kabel neben den sündhaft teuren Verstärker in seinen Bus und war gerade im Begriff die Hecktüren zuzuschlagen, als er doch noch einmal das abgewetzte Case herauszog und die Fender Dreadnought in die Hand nahm. Der kühle Wind, der die fortschreitende Dämmerung umwehte, rüttelte ihn ein wenig wach. Drinnen im Club war es abartig heiß gewesen und trotz der minimalistischen Strahler hatte er geschwitzt wie verrückt. Dabei trug er bei Auftritten zu seinen Jeans ohnehin schon immer nur seine dünnsten T-Shirts. Er warf sich ein gebrauchtes Holzfällerhemd vom Beifahrersitz über, setzte sich auf die vordere Kante der Ladefläche und begann das zu spielen, wozu er sich noch eine Stunde zuvor nicht in der Lage sah.

Es war keine zwei Wochen her, dass ihn die Nachricht von Tom Pettys Tod wie ein Schlag getroffen hatte. Nicht, dass es verwunderlich wäre, dass seine Idole in den vergangenen Jahren reihenweise das Zeitliche segneten. Viele von ihnen waren weit über 70 oder hatten einen Lebensstil hinter sich, bei dem es nur schwer vorstellbar ist, überhaupt 40 zu werden. Oder beides. Aber eine versehentliche Überdosis Schmerzmittel mit 66? Schwer zu verkraften. Er griff die ersten beiden und die letzte Saite und summte leise zur Melodie von „Wildflowers“. G, D, A und wieder D. Eine simple Akkordfolge, in der Strophe wie im Refrain, nur kurz unterbrochen von der Andeutung einer Bridge. Und doch so sinnlich, so poetisch und so überwältigend.

Er bemerkte sie erst, als er nach dem letzten Akkord noch eine kleine Ewigkeit innegehalten hatte. Sie lehnte an der Hauswand des Clubs, etwa fünf Meter von ihm entfernt, und hatte die Augen geschlossen. Im schummrigen Schein der Hinterhofbeleuchtung konnte er ihren Gesichtsausdruck nur erahnen. Und doch war ihm, als hätte er eine Träne auf ihrer linken Wange aufblitzen sehen. Ganz automatisch war er vom Summen ins Singen übergegangen und am Zittern seiner rechten Hand erkannte er, welche Rührung dieser Song auch in ihm selbst auslöste. Mehr als je zuvor vermutlich.

Er hatte keine Idee, was er hätte sagen sollen. Er sah sie einfach nur an und wartete darauf, dass sie sich regte.
“Das hättest du eben spielen sollen”, sagte sie, als sie mit einem verhaltenen Lächeln die Augen öffnete.
Sie blickte ihm noch einen Moment in die Augen, drehte sich um und ging. Er konnte noch einen kurzen Blick auf ihre gelockte, blonde Mähne erhaschen, als sie unter einer Straßenlaterne hindurchging, dann bog sie in ihrer knallgelben Jacke um die Ecke. Und ließ ihn verdutzt zurück.

You belong somewhere you feel free.

An manchen Tagen ging es richtig gut. Sie ließ sich bei offenen Vorhängen von der Sonne wecken, stieg fast gut gelaunt aus dem Futonbett und brachte den ersten Becher Arabica nahezu ohne Groll hinter sich. Inzwischen war jedes noch so unbedeutende Detail aus der winzigen Küche und dem Wohnzimmer verschwunden, das sie an Mark erinnerte. Nur in einigen Ecken des Kleiderschranks sowie dem großen, unaufgeräumten Regal im Flur tummelte sich noch eine Menge Mist von ihm, den sie definitiv bald vor die Tür schmeißen würde.

Seit Lina sie gezwungen hatte, auch nach der Arbeit nochmal die Wohnung zu verlassen, fühlte es sich beinahe wieder wie ein Leben mit sozialen Kontakten an. Sie sah das eine oder andere Café mal wieder von innen, ging ins Kino, machte Sport. Yoga kam zwar noch nicht wieder in Frage – zu viel Zeit zum Abdriften und Grübeln – aber im Indoorcycling hatte sie das ideale Kontrastprogramm gefunden. Es ging wirklich gut.

Aber an manchen Tagen war es schlicht die Hölle. Da hafteten nicht nur die Erinnerungen an jedem Centimeter der Wohnung, sondern auch die vielen Vorsätze und Pläne schwirrten wie Dämonen durch das kleine Loft und vor allem ihr ruheloses Inneres. Hochzeit, Weltreise, Einfamilienhaus. So sehr sie glaubte, immer schon untypisch viel Freiraum für sich selbst eingefordert zu haben, so schwer fiel ihr doch der Abschied von dem fast spießig anmutenden Leben, das sie sich ausgemalt hatten. Für das sie ohne Weiteres bereit war, Opfer zu bringen. Große Opfer. Doch keine zwei Monate, nachdem sie das unglaubliche Angebot der Berliner Galerie wegen ihm ausgeschlagen hatte, hob er schon tatkräftig das Grab für ihre gemeinsame Zukunft aus. Die Hoffnungen zerplatzten viel schneller, als sie es begreifen wollte.

Das breite Echtholzfensterbrett im Erker des Wohnzimmers war so zu ihrem liebsten Ort an diesen Höllentagen geworden. Der Blick ins Grüne konnte sie in gleichem Maße aufbauen wie niederschmettern. Jede Träne ein Traum, der in Erfüllung gehen will.

Whatever you’re looking for,
don’t come around here no more.

“Benny, mach es! Auf jeden Fall!” Es war die erste Reaktion dieser Art auf sein Vorhaben und er fragte sich, warum er nicht sofort mit dieser Idee zu Jonas gegangen war. Das hätte ihm einiges an Motivationsdämpfern erspart, zumindest vorerst.
“Dass dich der Job nicht ausfüllt, hat jeder gemerkt. Hier ist die Chance, mach’s einfach!”
Er hatte wirklich nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung diesem Job gegenüber gemacht. So modern er auch war, er war weder nachhaltig, noch konnte er ernsthaft in irgendjemandem Gefühle oder gar Freude auslösen. Er war eine Sackgasse für Emotionen, nichts anderes. Aber kündigen und stattdessen nur noch Musik machen? Und ein nicht unwesentliches Risiko eingehen?

“Wen interessiert deine Kreditwürdigkeit? Dich selbst ja schon mal nicht, das brauchst du hier keinem erzählen!”
Jonas machte den Eindruck, als sei er drauf und dran, selbst seine Koffer zu packen und mitzukommen. Und sei es nur als Kabelträger.
“Der Mann bietet dir hier die Gelegenheit mit deiner Musik deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Willst du jetzt so tun, als wäre das nicht immer der große Traum gewesen?”
Natürlich war er das immer.

And it’s wake-up time, time to open up your eyes.
And rise. And shine.

Ende, aus, vorbei. Diese Träne würde das letzte Satzzeichen in einer viel zu langen und völlig nutzlosen Geschichte bilden. Die Tatsache, dass es zwei Flaschen Wein für diese Erkenntnis brauchte, machte sie nicht weniger bedeutsam. Im Gegenteil. Denn das würden auch gleichzeitig die letzten leeren Flaschen in dem hoffnungslos überfüllten Glascontainer sein, um den die Geschichte erschreckend oft herumgetänzelt war. Letzte Trauerphase, Neuanfang. Die unverhoffte Euphorie griff ebenso schlagartig ihre Magengegend an und entlud sich in dem blauen Putzeimer, den eine umsichtige Lina gegen 06:30 Uhr neben ihr Bett gestellt hatte.

“Ich hab grad gekündigt”, versuchte er so abgeklärt wie möglich ins Telefon zu rufen.
“An einem Sonntag? Darf man das überhaupt?”
“Komm schon, ich hab den Wisch ausgedruckt und mein Gekritzel druntergesetzt, was denkst du wohl.” Ein Vorgang, der melancholiebefreiter nicht sein könnte. Nach all den Wochen des Grübelns und des seelischen Draufvorbereitens verwehrte ihm der Tintenstrahldrucker in seinem unnachahmlichen Röcheln den finalen, feierlichen Moment. Also ging er zu seinem genervten Nachbarn, dem er am Montag in die Arbeitslosigkeit folgen würde, und machte ihn zum ersten Zeugen seiner endgültigen Lossagung von allen gesellschaftlichen Fesseln. Dann aber rief er gleich Jonas an.

Well I know what’s right,
I got just one life.
In a world that keeps on pushin’ me around
but I’ll stand my ground.

Mit angespannter Miene nahm er immer wieder den schwarzen Kaffeebecher in die Hand, nur um ihn sofort wieder abzustellen. Er war längst leer.
“Hör zu, Benny: Du hast das schon tausendmal gemacht. Heute ist ein Abend wie jeder andere auch. Genieß es!”
Was natürlich Quatsch war, denn er hatte bislang nicht schon tausendmal eine Promotour für ein Album gestartet, das seiner Karriere den entscheidenden Schub geben sollte, um über Jahre davon zu leben. Es war, als würde er alles an diesem Tag zum ersten Mal machen.

“Warum gerade in den Tower?”
“Na weil das Ambiente schön ist und ich schon ‘ne Menge cooler Abende dort hatte.”
Was natürlich Quatsch war, denn bislang war noch jeder Gig, den sie spontan und ohne große Vorkenntnisse besucht hatte, ein völliger Reinfall gewesen. Außerdem war ihr klar, dass Lina ein Doppeldate arrangiert hatte. Und trotz absoluter Lustlosigkeit entschloss sie sich, den Aufwand, mit dem Lina dies zu verheimlichen versuchte, zu honorieren und mitzuspielen. Was machen schon zwei Stunden. Und vielleicht ist die Musik zur Abwechslung ja mal gut.

Well I started out down a dirty road.

Es stimmt, dachte sie, das Ambiente ist schön. Die Klinkeroptik an den Wänden, die vielen Poster, das punkige Flair. Und jede Menge entspannter Menschen. Abgesehen von ihrer Begleitung. Wo immer Lina diesen Kerl aufgetrieben hatte, sie hatte sich entweder völlig in ihm getäuscht oder er war nicht im entferntesten in der Lage, sich normal zu benehmen.

Schräg hinter der Bühne konnte er einen Blick auf die ersten Reihen werfen, während seine Vorband – bestehend aus einer quirligen Deutschen und einer introvertierten Kanadierin – die letzten Töne des Cellos verhallen ließ. Das Publikum schien wenig begeistert.

Started out all alone.

Es war heiß und stickig, weshalb sie froh war, dass sie die Vorband verpasst hatten. Die Mischung aus Cello, Klavier und schrägen Texten hatte ohnehin ziemlich merkwürdig geklungen. Sie steuerten direkt die Garderobe an, während auf der Bühne schon die ersten Töne auf einer Westerngitarre zu hören waren.

Der Applaus war frenetischer, als er erwartet hatte. Er nahm den Barhocker aus der Ecke, stellte ihn in die Mitte der Bühne und spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Mit einem zurückhaltenden Grinsen stimmte er ein: Hm, A, D. Bevor er vollends in eine andere Welt eintauchte, sah er am anderen Ende des Raumes noch eine leuchtend gelbe Jacke in Richtung Garderobe huschen.

I’m learning to fly,

around the clouds …