Als sich die ersten Sonnenstrahlen vorsichtig auf ihrem Gesicht niederlassen und ihre Haut erwärmen, ist der zermürbende Winter sofort vergessen. Zum ersten Mal in diesem Jahr hatte Lena ihren Schal und die Daunenjacke im Schrank gelassen und dem Frühling eine Chance gegeben. Sie schlendert langsam in das beschauliche Waldstück hinter ihrem Haus hinein und saugt all das in sich auf, worauf sie die letzten Monate verzichten musste. Viel zu lange hatten das Wetter und ihre Gemütslage auf beinahe demonstrativ zynische Weise dieselbe Melodie gespielt und sie immer weiter von dem entfernt, was eigentlich einmal ein glückliches und erfülltes Leben gewesen war. Kurz bevor sich jedoch ihre Verfassung einem bedenklichen Niveau zu nähern schien, weckte sie dieser Morgen mit einem fast vergessenen Licht und erinnerte sie daran, dass es neben der Dunkelheit auch noch Dinge gibt, für die es sich aufzustehen lohnt.

Jeder Schritt tiefer in den Wald hinein trägt sie ein wenig weiter weg von den Ärgernissen ihres Alltages und hin zu etwas, das sie weder beschreiben noch begreifen kann – und dennoch schon immer zu suchen scheint. Sie lauscht dem hastigen Zirpen der Kohlmeisen, inhaliert den süßen Duft der Maiglöckchen und lässt sich einfach treiben von dem harmonischen Zusammenspiel aus Geräuschen und Gerüchen. Hier fühlt sie sich willkommen und verstanden, muss sich nicht rechtfertigen und nicht verstellen. Hier darf sie sie selbst sein.

In ihrer Agentur hat sie dieses Gefühl schon lange nicht mehr. Stück für Stück zieht sie sich zurück und versucht sich mit dem Gedanken abzufinden, mit ihren Werten und Ansichten wohl weitgehend allein dazustehen. An das letzte ungehemmte Gespräch kann sie sich schon gar nicht mehr erinnern und auch an Smalltalk verliert sie mehr und mehr das Interesse. Schon bei belanglosen Kleinigkeiten fällt ihr auf, dass sie anders zu denken scheint als der Rest. Und das macht sie zur Außenseiterin – eine Rolle, die sie in ihrer Resignation mittlerweile bereitwillig und beinahe stolz angenommen hat. Sie verstand sich einmal als Moralist und Idealist, doch sie hatte unterschätzt, wie entmutigend die tägliche Konfrontation mit Intoleranz und Vorurteilen sein kann. Ganz und gar desillusioniert hält sie sich aus tagespolitischen Diskussionen inzwischen vollkommen raus, um sich einen letzten Rest an Akzeptanz im bornierten und scheinbar unbelehrbaren Kollegenkreis zu bewahren. Und es fällt ihr sichtlich schwer, sich dafür nicht auch noch selbst zu hassen.

Doch hier draußen, fernab von Arbeitskreisen, Deadlines und Personal-entwicklungsmaßnahmen, findet sie Zuflucht in einer Welt, in der es um viel weniger und doch um so viel mehr geht. Zwischen tobenden Kindern, picknickenden Paaren und spazierenden Rentnern offenbart sich ihr jedes Mal aufs Neue, was wirklich wichtig im Leben ist. Oder sein sollte. Denn zu selten hat sie noch das Gefühl, dass sich die Menschen in ihrem Umfeld für ihre Mitmenschen, die Natur oder überhaupt etwas anderes als ihren eigenen Gehaltsscheck interessieren. Wenn sie mit ihren leidenschaftlichen Gedichten und Kurzgeschichten versucht, anderen ihre Träume näherzubringen, erntet sie meist bloß fragendes Stirnrunzeln oder rollende Augen. „Ach Lena, deine Traumwelt hat mit dem realen Leben leider nicht viel zu tun.“

Mit dem ersten Schritt auf die Lichtung bemerkt sie, dass die Sonne mittlerweile ihren höchsten Punkt erreicht hat und ihre volle Kraft entfaltet. Sie zieht ihre dünne Jacke aus, wirft sie sich über die Schulter und bleibt mitten auf der schon in sattem Grün erstrahlenden Wiese stehen. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, dass der enttäuschend kurze Sommer das Zepter aus der Hand und an Sturm und Regen weitergegeben hatte. Einige Bäume scheinen sich noch immer nicht erholt und ihre Mühe damit zu haben, sich in das harmonische Bild einzufügen, das der hellblaue Himmel und die feinen Cirruswolken zu zeichnen versuchen.

Sie spaziert durch die aufblühenden Gräser bis hin zum riesigen See, dessen farbenfrohe Ufer sie über den Winter vermutlich am meisten vermisst hat. Unzählige Male war sie schon durch den feinen Sand an dem morschen Steg entlang geschlendert und hatte mit dem Gedanken gespielt, eines der niedlichen Kanus zu mieten, von denen alle paar Tage einmal eines von einem verliebten Pärchen hinaus gerudert wird. Getraut hatte sie sich allerdings nie. Das ist ja, als würde man allein ins Kino oder in ein Café gehen, dachte sie. Der alte, grauhaarige Mann, der bestimmt schon seit Jahrzehnten in der kleinen Hütte sitzt und die Tickets verkauft, lächelt sie auch heute wieder mit seinen faltigen Grübchen an. Ohne großartig darüber nachzudenken, mietet Lena das rote Kanu und rudert los.

In der Mitte des Sees schließt sie die Augen und lauscht. Sie hört den Wind, die Bäume, das Wasser und die Vögel und während sie so dasitzt und grübelt, fällt ihr auf, dass sie jetzt, in genau diesem Moment, überhaupt nicht unglücklich ist. Im Gegenteil: Sie kann sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal so zufrieden gewesen war. Sie könnte sich stundenlang hier draußen treiben lassen und in ihren Gedanken versinken. Könnte in den Himmel schauen und der Natur zuhören. Und da wird ihr bewusst, dass das, wonach sie sucht, weder unerklärlich noch unerreichbar ist. Sie jagt keinem undefinierbaren Gedanken nach, der sich ihr hoffentlich irgendwann einfach offenbaren wird. Sie will bloß glücklich sein, wie jeder andere auch und war zuletzt nicht in der Lage, die richtigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Das Bewusstsein, sich sein Umfeld selbst aussuchen zu können, war ihr irgendwie abhanden gekommen und so hat sie es schlichtweg versäumt, sich mit Menschen und Dingen zu umgeben, die ihr einfach nur gut tun. Ein Missgeschick, dem sie sich bereits unbemerkt entgegengestellt hat – in diesem Moment, auf diesem See, in diesem kleinen, roten Kanu.