Irgendetwas ist anders an diesem Abend. Er könnte es nicht beschreiben aber er ist sich sicher, dass da irgendetwas in der Luft liegt. Dabei ist es eigentlich ein Abend wie jeder andere auch. Unzählige Male hatten sie schon zusammen in dieser Bar gesessen, Cocktails getrunken, stundenlang tiefgründige Gespräche geführt oder einfach nur herzhaft zusammen gelacht. Es ist nichts Außergewöhnliches an diesem Abend. Und doch ist er angespannter als sonst. Er spürt diese subtile Unruhe in der Bauchgegend, ist gleichzeitig gehemmt und euphorisch. Und er könnte schwören, dass es ihr genauso geht. Allein die Tatsache, dass er sich das fragt, gibt diesem Abend schon eine ganz andere Richtung als all den Anderen. Aber warum heute?

Sieben Jahre zählt ihre tiefe Freundschaft schon und hatte in dieser Zeit so einige Beziehungen und Trennungen auf beiden Seiten überdauert. Sie spendete Kraft, wenn einer am Boden war, erteilte Ratschläge, wenn sich Unsicherheit breitmachte, und brachte zum Lachen, wenn Tränen aufkamen. Sie hatten viel zusammen durchgemacht und waren der lebende Beweis, dass Freundschaft zwischen Mann und Frau dauerhaft funktionieren kann. Sie standen sich näher, als jedes Pärchen, das sie kannten. Und für nichts auf der Welt hätten sie diese Freundschaft gefährdet.

Aber irgendetwas ist anders an diesem Abend. Ihm war ihr kurzes, schwarzes Kleid aufgefallen, das ihren umwerfenden Körper wieder einmal subtil aber perfekt in Szene setzte. Mehr, als es ihm sonst auffiel. Er würde niemals abstreiten, dass sie eine bildschöne Frau ist – ganz im Gegenteil. Er weiß um ihre Schönheit und die Zahl an Männern, die bei ihr Schlange stehen, unterstreicht das mehr als deutlich. Aber bisher hatte er das schlichtweg zur Kenntnis genommen. Sie ist seine beste Freundin, was kümmert ihn da ihr Aussehen? Auch ihr lieblicher Duft war ihm in der Vergangenheit nie in der Form aufgefallen. Er mochte sie bei der Umarmung zur Begrüßung kaum wieder loslassen und glaubte zu spüren, dass auch sie diese Umarmung mehr genoss als sonst. Das alles verstärkt sein Kribbeln nur, das er schon seit Tagen ein wenig verwundert wahrnimmt.

Es war nie eine Option, ihre Freundschaft gegen eine Beziehung einzutauschen. Nicht, dass sie darüber jemals nennenswert diskutiert hätten. Es kam einfach nicht infrage. Dieses innige Verhältnis, das sie teilten, war nicht mehr zu steigern und so wäre jede Veränderung zwangsläufig eine Gefahr für dieses Verhältnis gewesen. Dabei hätte es Gelegenheiten in der Vergangenheit durchaus gegeben. Nicht nur einmal waren sie zur selben Zeit Single und nicht selten hatten ihnen Freunde in ihrem Umfeld die große Liebe prophezeit, die sich doch schon so lange anbahne. Doch dieser Möglichkeit gestanden sie in ihrer Freundschaft keinen Raum zu. Zu groß wäre das Risiko, all das zu verlieren, was ihnen so viel bedeutete. Ihre Freundschaft würden sie nicht antasten, da waren sie sich stillschweigend einig.

Doch irgendetwas ist anders an diesem Abend. Er war nervös, bevor er aus dem Haus ging. Hatte dreimal das Hemd gewechselt und Ewigkeiten vor dem Spiegel zugebracht. Als er sieh dann sah, wie immer stilvoll gekleidet und die langen braunen Haare zurückhaltend zum Zopf gebunden, spürte er dieses Gefühl in ihm aufsteigen, wie er es bei ihr eigentlich nicht kannte. Und wie es eigentlich auch nicht aufkommen sollte. Als sie die Bar betraten, legte er seine Hand an ihren Rücken, bis sie an ihrem Tisch angekommen waren. Eine harmlose Art, sie zum Platz zu leiten, wie er es sicher schon unzählige Male getan hatte. Aber dieses Mal fühlte es sich nicht harmlos an. Er genoss die Wärme ihres Körpers und sie schien bewusst langsamer zu gehen, um diese Berührung auszudehnen. Er war wie benommen, als sie sich setzten, und ganz sicher nicht in der Lage, irgendein gehaltvolles Gespräch zu beginnen.

Ihre Telefonate und Nachrichten hatten sich in den letzten Wochen verändert. Sie hatten auch vorher schon sehr häufigen Kontakt aber mehrmals täglich war auch für ihre Verhältnisse viel. Auch kleine Flirts und Zweideutigkeiten hatten deutlich zugenommen. Nicht, dass es so etwas in der Vergangenheit nicht auch schon vereinzelt gegeben hätte. Es bestanden allerdings nie Zweifel daran, dass all das im Spaß geschah und vor allem kam es so selten vor, dass sich niemand etwas dabei gedacht hätte. Aber “Hey Schatz” oder “Hallo schöner Mann” hatten sich mit einer bemerkenswerten Beiläufigkeit in ihre Gespräche eingeschlichen, dass es Außenstehende mittlerweile unter Garantie verstören würde. Die Grenze des subtilen Flirts hatten sie dabei aber nach wie vor nicht überschritten und auch, wenn sie vor diesem Abend wieder einmal scherzhaft von einem romantischen Date sprachen, so sollte es doch eigentlich bloß ein ganz normaler Freitagabend in ihrer Lieblingsbar sein, wie sie ihn schon unzählige Male verbracht hatten. Eigentlich.

Denn irgendetwas ist anders an diesem Abend. Sie lächelt ihn unentwegt an, während sie sich am Smalltalk entlang zu ihren schon fast üblichen moralischen Gundsatzdiskussionen hangeln. Von dort geht es – wie so häufig ab dem dritten Cocktail – zum Schwelgen in Erinnerungen und vergangenen Erlebnissen. Alles nicht weiter ungewöhnlich und doch liegt es in der Luft. Dieses Etwas, das er nicht beschreiben kann. “Weißt du noch, wie wir damals ewig an dieser Bushaltestelle warten mussten, weil wir aus Versehen viel zu weit gefahren waren?” Seltsamerweise erinnert er sich nur zu gut an diese belanglose Annekdote. “Klar weiß ich das noch, du hast mir danach immer die Schuld daran gegeben.” Ohne zu Grinsen geht sie darüber hinweg. “Und weißt du auch noch, dass es in der Nacht wahnsinnig kalt war und du mich in den Arm genommen hast, um mich zu wärmen?” An der Stelle fällt ihm wieder ein, warum er diese Belanglosigkeit nicht vergessen hatte und nickt. “Ich hätte dich damals verdammt gerne geküsst.” Sie wendet ihre Augen nicht von ihm ab, als sie an ihrem Cocktail nippt und er zu zittern beginnt. “Das wollte ich auch.”

Nun ist es passiert. Sie sind vom subtilen zum offenen Flirt übergegangen und das bringt ihn vollends um den Verstand. Sie spazieren nach der Bar noch ewig durch die menschenleere Innenstadt, berühren sich immer wieder flüchtig und sprechen jeden Gedanken sofort aus. Sie ärgern sich plötzlich lautstark, diese Gelegenheit ausgelassen zu haben anstatt stolz darauf zu sein, ihre Freundschaft nicht gefährdet zu haben. Sie malen sich aus, wie dieser Kuss wohl gewesen wäre und was sonst noch alles passiert wäre in dieser Bushaltestelle. Sie werfen alle ihre Vorsätze über Bord, laßen ihren Gefühlen freien Lauf, denken nicht an morgen und plötzlich küssen sie sich. Sie küssen sich länger als jeder Hollywoodfilm ihnen zugestanden hätte und dann ist es still. In einer Mischung aus Überwältigung und Schock sehen sie sich in die Augen und schweigen. Bis zur S-Bahnhaltestelle sprechen sie nicht ein Wort mehr. Als seine letzte Bahn vor ihnen hält, küsst er sie zum Abschied, steigt ein und lässt sich in den Sitz fallen. Er will ihr sofort schreiben, tippt und löscht wieder, tippt und löscht wieder. Er hat keine Ahnung, was er ihr sagen soll. An diesem Abend ist einfach alles anders.