Ein überfülltes Shopping-Center, beißender Chinese-Food-Geruch, draußen eine irre Hitze und wir beide laufen uns beinahe über den Haufen. Völlig ohne Vorwarnung. In der Stadt, die wir beide so lieben. Obwohl ich längst woanders lebe und auch du erst seit kurzem wieder dort wohnst. Obwohl ich nur einen Tag beruflich in der Stadt bin und du nur selten in deiner Mittagspause durch dieses ungemütliche Center spazierst. Obwohl es zwei Millionen andere Menschen hätten sein können, stehst du mir plötzlich gegenüber und kannst es selbst kaum fassen. Fällt verdammt schwer, da an Zufall zu glauben.

Wir sehen uns lange an, bis der Erste einen Ton herausbekommt. Eine gefühlte Ewigkeit mindestens, die wegen mir überhaupt nicht enden müsste. Du trägst dein Haar offen, hast ein lockeres aber seriöses Büro-Outfit an, wie ich es an dir noch nie gesehen habe, das dir aber außergewöhnlich gut steht. Fast schon in rebellischem Gegensatz dazu hast du nur sehr wenig Make-Up aufgetragen, was ich immer besonders an dir gemocht habe. Gebraucht hast du es ohnehin nie. Du bist zuerst fähig etwas zu sagen. Irgendetwas, das ich kaum mitkriege. Als dein Staunen in strahlende Freude umschlägt, stehe ich noch immer da wie ein Toastbrot im Regen und ringe mit einem Herzstillstand. Wir liegen uns länger in den Armen als wahrscheinlich jemals sonst zwei Menschen, küssen uns auf die Wangen und nicht nur in die Luft, umarmen uns wieder und stören uns kein Stück daran, dass wir garantiert gerade jedem im Weg stehen.

Später werde ich mich fragen, warum ich so absolut überrascht gewesen war. Nicht, dass ich mit dem Aufeinandertreffen hätte rechnen können. Aber ich hätte es mir doch ausmalen müssen! Bei einem Termin in unserer Heimatstadt, in dem Stadtteil, von dem ich weiß, dass du dort wohnst, hätte ich doch schon Wochen im Voraus in irgendeiner Tagtraumsequenz nostalgisch und sehnsüchtig davon schwärmen müssen. Und im Nachhinein wieder. Dann eher leidend als nostalgisch, weil es wenig überraschend nicht passiert ist. Ich habe beinahe Schuldgefühle deinem Andenken und meiner Melancholie gegenüber.

Ich fange an zu stammeln, sichtlich um Souveränität bemüht. Aber auch du bist nervös. Was mich beruhigt. Ich fühle mich nicht so dämlich wie beim letzten Mal, als wir uns – Jahre vorher – zufällig begegnet waren. Gott, ist dein Strahlen ansteckend, ich verliere mich sofort wieder darin.

Nach einer halben Stunde aufgekratzten Smalltalks stellen wir fest, dass deine Mittagspause eigentlich längst vorbei und mein Termin schon viel zu nah ist.
    “Wie viel Zeit hast du?”
    “Ich kann auch einfach mal früh Feierabend machen. Und du?”
    “Termine kann man verschieben.”
Zehn Minuten und zwei Telefonate später sitzen wir auf den muffigen Sitzen der S21 zum Berliner Tor und strahlen uns gegenseitig an. U3 Richtung Schlump, am Rathaus will ich schon deine Hand nehmen. Landungsbrücken raus.

Draußen ist die Luft beinahe schlechter als im Wagon, die Hitze unerträglich. Wir müssen die Augen zusammenkneifen, als wir die Brücke überqueren, ich lege meine Hand vorsichtig an deinen Rücken. Vor der Treppe bleiben wir stehen; hinter uns St. Pauli, vor uns die Elbe. Und ich weiß wieder: Ja, es verdient Applaus. Dieses Bild.

Du musst gehört haben, was ich denke.
“Ich liebe es auch”, sagst du, als du deine Hand auf dem Geländer auf meine legst.

Die letzten Stufen hinunter, Richtung Alter Elbtunnel, am Hard Rock Café vorbei, Brücke 6, Norderelbe. Hektische Idylle zwischen tausenden Touristen, der König der Löwen grüßt von der Stage gegenüber.

Der Anblick, die Szenerie – ein Traum. War sie immer schon. Für uns aber war sie auch immer schon mehr. Ein Ort, an dem Heimat und Fernweh mit sanfter Brutalität aufeinander prallen. An dem nur wenige zuhause sind, sich aber jeder zuhause fühlen darf. An dem es bei der Frage “Holsten oder Astra?” um mehr geht als bloß die Biersorte. Diese Stadt. Mit dieser Frau. Zum Heulen schön.

“Erinnerst du dich noch an unseren letzten Abschlussball damals in der Tanzschule?”
Das tue ich, natürlich. Ich bin überrascht, dass es dir genauso geht. Dass es dir genau jetzt einfällt. Ich nicke.
“Das wäre eigentlich ein ziemlich filmreifer Abschluss für die große Liebesgeschichte gewesen, die es nie gegeben hat.”
Ich bin baff. Habe keine Ahnung, worauf du hinaus willst. “Irgendwie war es das doch auch.”
Du lächelst. “Ja. Und dann laufen wir uns in großen aber regelmäßigen Abständen absurd zufällig über den Weg.” Du blickst aufs Wasser. “Als wollte uns irgendetwas mit Gewalt daran erinnern, dass es eben doch keiner war.”

Wir sprechen wenig und doch ist es, als würden wir die ganze Zeit miteinander reden. Sehen uns kaum an und sind uns doch wahnsinnig nah. Schwelgen ewig in Erinnerungen, in vergangenen und vielleicht noch kommenden. Wer weiß das schon. Ich habe spätestens heute aufgehört, an Zufälle zu glauben. Was immer es sein oder gewesen sein soll mit uns – es ist okay. Du gehörst zu mir und ich zu dir, so oder so. Uns wird es nie ohne den anderen geben.

“Was meinst du? Schenkst du mir noch drei Haltestellen zum Abschied?”, fragst du lächelnd. “Ab Sternschanze kann ich bis nach Hause durchfahren.”
Auch du wirkst irgendwie um eine Erkenntnis reicher. Als hätte uns allein der Anblick dieses Flusses ein Stückchen weiser gemacht. Oder einfach nur noch weiter zurückgeworfen. An einen Punkt der Resignation, der nur scheinbar wie Hoffnung anmutet. Wer weiß das schon. Natürlich begleite ich dich.

Und da stehen wir nun, den Fernsehturm im Hintergrund und Uringeruch in der Nase. Und fragen uns vielleicht beide, was das nun für ein Abschied ist. Ein “Bis zum nächsten Mal”? “Bis in 30 Jahren”? Ein “Leb wohl”? Du umarmst mich. Drückst mich fest, versuchst vergebens, die Träne zu verbergen. Wir küssen uns.
    “Ich liebe dich, das weißt du.”
Dann kommt die Bahn. Und das Loslassen.

Ich fahre auch. Erst zum Hotel, am nächsten Morgen zum Flughafen, abends nach Haus. Und überall liegen die Erinnerungssplitter herum. Ich tret’ rein. Immer wieder.