“Viel Distanz, vorsichtiges Abwägen, kaum jemand weiß etwas vom anderen, kaum jemand interessiert sich auch für den anderen. Bloß keine Schwächen zeigen, ja nichts Persönliches preisgeben, viel Angst, etwas Falsches zu sagen, keine Kritik, keine Zustimmung.” Dieses Zitat ist ein Auszug aus einem Brief, der vor Jahren einmal einem ganzen Abiturjahrgang die Fragezeichen ins Gesicht trieb. “Der Kurs eher ein totes Unterrichtsgebilde als eine quirlige, vor Lebenslust und Lebenskraft strotzende Arbeitsgruppe, nichts Schrilles, nichts Verwegenes, nichts Mutiges, nichts Jugendliches!” Ein ungefähr 20-köpfiger Kurs – überzeugt davon, eine fröhliche und beliebte Gruppe zu sein – sah sich einer erschütternden Realität gegenüber. Adressat war ein Biologiekurs, angesprochen fühlte sich ein ganzer Jahrgang, gemeint war eine ganze Generation.

Dieser Teil der Geschichte spielte sich vor einigen Jahren an einem norddeutschen Gymnasium ab. Das Abitur stand kurz bevor, die Komitees arbeiteten im oberen Drehzahlbereich. Und so war die Idee in diesem Abschlussjahrgang, dass in der so genannten ‘Abizeitung’ über jeden Kurs zwei Texte geschrieben werden. Einer aus der Schülersicht, einer von der jeweiligen Lehrkraft. Es war eine spannende Idee, die letztlich allerdings zur Oberflächlichkeit und Heuchelei verkam. So sehr man sich in all den Jahren auch im Stillen über etwas aufgeregt hatte – ob Schüler oder Lehrer – auf dem Papier stand am Ende die gespielte Harmonie. Jeder beteuerte, wie sehr er die Zeit genossen habe, wie viel er vom Gegenüber gelernt habe. Am Ende waren es dutzende tolle Kurse, an denen niemand etwas auszusetzen hatte. Nur einer durchbrach diese Harmonie. Ein Lehrer verspürte den Drang, ehrlich zu seinem Kurs zu sein. Mit dieser Ehrlichkeit jedoch wusste keiner etwas anzufangen.

Er schrieb einen Brief, in dem er sich merklich traurig über die heutige Schülerschaft äußerte. Er erzählte aus einer Zeit, in der er noch von den Schülern gelernt habe, weil sie ihn forderten, ihn kritisierten, sich nicht mit dem zufrieden gaben, was ihnen vorgesetzt wurde. Er beschrieb eine darauffolgende Ökophase, in der das gesellschaftliche und individuelle Miteinander hinterfragt, diskutiert und gelebt wurde. Er berichtete beinahe sehnsüchtig aus einer Zeit, die auch ihn sichtlich geprägt hatte: Optisch der Typ Rainer Langhans und selbst schon seit 40 Jahren Mitglied einer vierköpfigen WG. “Schade, ich hätte gerne etwas von euch gelernt, ich wäre gerne von euch gefordert worden! […] nur euch selbst, das, was ihr wirklich denkt und fühlt, das wolltet ihr nicht preisgeben, nicht mit mir teilen. […] Ich wollte mit euch darüber sprechen, dass es im Leben zwar auch ums Geldverdienen geht, aber viel, viel mehr um Beziehungen, […]. Darüber und über viele andere Dinge hätte ich gern mit euch gesprochen. In der Schule, neben der Schule, wo auch immer.”

Dieser Aspekt des Lehrerseins – der Aspekt, der ihn erst dazu gebracht habe, Lehrer zu werden – war ihm schon seit Jahren nicht mehr vergönnt und das stimmte ihn offenbar enttäuscht und traurig. “Ich glaube, viele von euch werden, wenn sie diesen Artikel lesen, gar nicht verstehen, wovon ich rede, was ich vermisst habe.” Und damit lag er vollkommen richtig. Nur, dass es nicht viele, sondern alle waren, die ihn nicht verstanden. Selbst, wenn sie gewollt hätten, sie konnten es nicht. Es gab in der Folge ein paar Ansätze von Gesprächen über diesen Brief. Es gab eine klärende Unterrichtsstunde mit dem gesamten Kurs, aber es half alles nichts. Es wurde sogar diskutiert, diesen Artikel – diesen einzigen ehrlichen Artikel – gar nicht in der Abizeitung abzudrucken. Erschreckend, aber bezeichnend. Die Schüler, jeder von ihnen vor dem Gesetz bereits ein Erwachsener, hatten ihn nicht verstanden.

Denn sie waren, was die Zeit aus ihnen gemacht hatte. Sie kannten es nicht anders, dieses angeblich so fragwürdige Verhältnis zu den Mitmenschen war für sie vollkommen normal. Was dieser Lehrer an seinen Schülern bemängelte, kann stellvertretend für das stehen, was das heutige Miteinander ausmacht. Denn es ist offenbar geprägt von Oberflächlichkeit und Desinteresse. Es scheint, als wirkten sich nicht mehr die Beziehungen auf unsere Lebensweise aus, sondern die Lebensweise auf unsere Beziehungen. Denn wenn wir uns daran gewöhnen, an vermeintlich fremden Menschen kein Interesse mehr zu entwickeln, dann gelangen wir schnell auch an einen Punkt, an dem uns unsere Freunde und Vertrauten nicht mehr interessieren.

Ich hatte vor kurzem das Glück, meinen besten Freund Simon für einen Abend von seiner Traumfrau loszueisen. Wir saßen am Strand, tranken Bier im Sonnenuntergang und haderten mit uns selbst und unserer Generation. Simon arbeitete seit einigen Wochen in einer neuen Agentur, auf die er sich sehr gefreut hatte. Doch der anfängliche Enthusiasmus war angesichts der dortigen Kollegschaft schnell verflogen.

Simon ist weiß Gott keiner, dem es schwer fällt, Anschluss zu finden. Vielmehr braucht man ihn bloß für eine halbe Stunde in eine neue Gruppe zu stoßen und man hat schon das Gefühl, als drehe diese sich hauptsächlich um ihn. Doch dieses Mal war es anders. “Christian, die kommen da einzig und allein zum Arbeiten hin. Da interessiert sich kein Schwein für den anderen”, klagte er. “Wenn du die fragst, ob jemand nach der Arbeit noch ein Bier trinken gehen will, gucken die dich an, als hättest du sie um ’ne Niere gebeten!” Ich überlegte kurz, ob ich selbst nun unbedingt so scharf darauf wäre, mit meinen Arbeitskollegen auch noch nach Feierabend ständig abzuhängen. Eigentlich war ich nämlich auch ganz froh, wenn nach der Arbeit endlich das Privatleben begann. “Ich muss ja auch nicht ständig nur meine Arbeitskollegen um mich haben”, unterbrach er mich, als ich noch ausholte. “Aber dieser Laden ist so unpersönlich, dass ich mir sicher bin, die Hälfte meiner Kollegen würde mich nicht erkennen, wenn sie jetzt hier an mir vorbeigehen würde.” Er unterstützte diese These mit einem Spaß, den er sich die letzten Tage zum Hobby gemacht hatte. Er hatte sich angewöhnt, jeden Kollegen morgens beim Begrüßungshandschlag zusätzlich mit dessen Vornamen anzusprechen. Und jedes Mal, wenn er zu dem verdutzten Gesicht nur ein unsicheres “Morgen” zurückbekam, fühlte er sich bestätigt.

Und wie es zuerst nur um das Verhältnis unter Arbeitskollegen ging, kamen wir von einem zum anderen und endeten letztlich in einer gesellschaftskritischen Debatte von beinah epischem Ausmaß. “Überleg doch mal, Christian, mit wie vielen Menschen du vor fünf Jahren noch ständig in Kontakt oder sogar unterwegs warst. Und wie viele sind das heute noch?” Ganz Unrecht hatte er nicht, es waren vermutlich nicht einmal mehr halb so viele. Wobei Job und Partner mittlerweile schließlich auch ihren Platz einfordern. Andererseits sehe ich Simon heute nicht viel weniger als vor zehn Jahren und wir haben beide Job und Freundin. Seine Erklärung dafür war simpel: Die meisten Menschen sind zu faul. Sie sind zu faul, Kontakt zu halten und zu pflegen, zu faul, um aus ihrem Mikrokosmos aus Couch, Laptop und Partner hervorzukriechen.

Tatsächlich ist es heutzutage wahnsinnig einfach geworden, nur noch zu konsumieren. Sich die Zeit mit Medien und Internet zu vertreiben, alles bloß noch aufzusaugen und dafür den harten Arbeitstag als Ausrede heranzuziehen. Das soziale Leben spielt sich online ab. Auf Websites, Blogs, Facebook und anderen Sozialen Netzwerken. “Social Media” wird genannt, was viele sogar bewusst und gezielt “leben”, und ich für einen großen Widerspruch halte. Wo viele die großartige Möglichkeit sehen, sich mit möglichst vielen Menschen zu vernetzen, sahen Simon und ich an diesem Abend das Absterben der realen sozialen Kontakte.

Ein Freund von mir, den ich mittlerweile allerdings auch nur noch höchst selten zu Gesicht bekomme, hat die Ausrede vom harten Arbeitstag quasi perfektioniert. Den brauche ich unter der Woche gar nicht anzurufen, der nimmt von montags bis freitags die Direktverbindung vom Bürostuhl zur Couch. Um von dort dann wieder die XBox, Facebook oder was auch immer heißlaufen zu lassen. Das Interesse am menschlichen Miteinander, was einen ja womöglich noch viel besser vom Alltagsstress abzulenken vermag, wird auf ein Minimum heruntergefahren. Gleichzeitig wird die Facebook-Freundesliste fleißig weiter gefüttert. Macht ja schließlich auch was her.

Faulheit und Konsumismus lassen das Interesse an unseren Freunden und Bekannten mehr und mehr zur Oberflächlichkeit verkommen. Weil es einfacher ist, eben von zuhause aus ein, zwei unpersönliche WhatsApp-Nachrichten rauszuschicken, als wirklich ein gehaltvolles Gespräch zu führen. Und wenn uns in unserer Beschränktheit mal auffallen sollte, dass dabei überraschenderweise auch noch andauernd Missverständnisse entstehen, dann benutzen wir einfach doppelt so viele Smileys, anstatt sich in einem Telefonat zu erklären. “Deswegen find’ ich meine neue Allnet-Flat so klasse”, lachte Simon. “Ich ruf’ die Leute jetzt wegen jedem Scheiß an, ist mir völlig egal! Vielleicht lernen sie es dann ja wieder. Dieses sinnfreie Getexte geht mir jedenfalls auf die Nerven!” Die Kommunikation ist einfach und schnell geworden, aber so wirklich verdient hat sie diese Bezeichnung wohl kaum noch. Wann sprechen wir denn tatsächlich noch mit- und übereinander? Über das, was uns beschäftigt, uns bewegt. Wen interessiert es noch?

Bei mir selbst beobachte ich das nur zu gut. Neulich rief mich mein Onkel an. Ich war so überrascht, seine Stimme durch das Telefon zu hören, dass ich wohl zugeben muss, vorher noch nie mit ihm telefoniert zu haben. Relativ am Anfang des Gesprächs wollte ich “Was gibt’s denn?” fragen, bis mir auffiel, dass er sich einfach nur nach mir erkundigen wollte. Es gab nichts Spezielles. Er wollte wissen, wie es mir geht, was ich so treibe. Ich war beinahe überfordert, dass jemand wirklich ehrlich wissen wollte, wie es mir geht. Und da musste ich mir dann natürlich eingestehen, dass es auch zu gleichen Teilen meine Schuld ist, dass wir nie telefonierten. Auch ich habe es scheinbar verlernt, Interesse an Personen aus meinem Umfeld zu haben. Auch ich beschäftigte mich mittlerweile einfach mit anderen Dingen.

“Mein Vater hat mir das schon vor zehn Jahren gesagt”, ergänzte Simon, “hör auf, dich immer nur berieseln zu lassen!” Ich fand das eine sehr treffende Formulierung, denn genau das ist es. Wir lassen uns berieseln. Wir geben nicht mehr, wir nehmen nur noch. Und wenn niemand mehr gibt, muss man eben nehmen, was das mediale Angebot hergibt. Wir gehen nicht mehr auf andere zu, sondern wir warten, dass andere diesen Schritt machen. Wir ärgern uns, dass kaum noch jemand unternehmungslustig ist, obwohl wir selbst niemanden danach fragen, etwas zu unternehmen. Wir sind traurig, dass sich keiner für das interessiert, was uns zu schaffen macht, während wir selbst nur noch aus Höflichkeit bei der Begrüßung “Wie geht’s dir?” fragen. Wir ziehen uns langsam immer mehr zurück, weil es alle anderen genauso machen. Wir warten auf diejenigen, die uns den entscheidenden Schubs geben, obwohl wir es selbst sein könnten. Wir selbst sind der ausschlaggebende Punkt in diesem Teufelskreis.

Simon schien das noch vor mir erkannt zu haben und uns ging an diesem Abend am Strand ein ums andere Mal ein Licht auf, wenn auch ein Enttäuschendes. Denn wie wir unsere Mitmenschen für ihre Fehler und Unzulänglichkeiten so altklug an den Pranger stellten, wurde uns klar, dass wir uns dort genauso einreihen mussten. Wir befanden uns ebenso im Sog dieser schlechten Angewohnheiten. Es war keine sonderlich erfreuliche Erkenntnis. Wir hatten, genau wie die Schüler aus dem Biologiekurs, von Grund auf gelernt, zuallererst uns selbst zu sehen. Und so fiel es uns mit der Zeit auch immer schwerer, unsere Freunde ernsthaft wahrzunehmen.

Auf dem Heimweg hatte ich irgendwie das Bedürfnis, mich bei einer langjährigen Freundin zu melden, die mittlerweile leider einige Hundert Kilometer weit weg wohnt. Ich öffnete WhatsApp und schrieb ein paar nette Zeilen drauf los. Dann stockte ich. Ich überlegte kurz, löschte alles wieder und wählte ihre Nummer. Sie freute sich wahnsinnig, meine Stimme zu hören.